Im Waldwinkel Schulzendorf ist Berlin ein Dorf

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Dörfliches Berlin wie hier in in Schulzendorf. ©Jeanette Tust

“Is’ das der Ku’Damm?”, fragt die einzige wartende Frau an der Haltestelle vor dem S-Bahnhof Schulzendorf bei Tegel. Die Frau Mitte 50 steht vor der metallenen Sitzfläche, mit Löchern, der Bus-Haltestelle 124 und schaut auf das großflächige Werbeplakat hinter einer der Glasscheiben. Ja, das ist der Ku’Damm in Charlottenburg-Wilmersdorf. Genauer gesagt zeigt das Poster die Ecke an der Joachimsthaler Straße mit Blick auf das Café Kranzler. „Ganz schön ruhig hier gegenüber dort, oder?”, fragt sie. Ja. Kaum jemand läuft über die Straßen, wenige Pkws fahren vorbei, kein Lieferverkehr an diesem sonnigen Vormittag. Einige KundInnen kaufen in den drei Märkten in Flachbauten am Bahnhof ein (21. August).

Mehr noch: Dieser Teil der Stadt ist offenbar: ein Dorf. In Echt, nicht nur im Ortsnamen wie bei Steglitz-Zehlendorf. In Berlin. Wie geht das denn? Die Lokalnachrichten berichteten bereits über Kieze, Viertel, Inseln, Großsiedlungen … Berlin ist vielfältig, ja. Nur, ein Dorf? 

Ein kurzer Blick in die Geschichte hilft weiter. Es war einmal das Doppeldorf Berlin-Cölln an der Spree. Das ist Jahrhunderte her. Drumherum lagen lauter Dörfer der Mark Brandenburg. Das Doppeldörflein wuchs und wuchs. Schließlich setzte sich Berlin als Stadt durch. Heute ist es die größte Stadt landesweit und hat über 3 Millionen EinwohnerInnen. TouristInnen aus aller Welt kommen vorbei. So weit, so bekannt. Was aber passierte mit den vielen Dörfern der Mark Brandenburg, die heute auf Berliner Boden liegen? Wurden die alle geschluckt und verstädtert? Mitnichten. Laut Senat für Stadtentwicklung gibt es in Berlin nach wie vor dutzende Dörfer oder Gemeinden mit dörflichen Strukturen. 

Reportage Dorfliches Berlin
Dörfliches Berlin kann bunt sein: Tierische Bemalung einer Unterführung. ©Jeanette Tust

Mit etwas mehr Ruhe und Abstand

Zurück zur wartenden Frau an der BVG-Haltestelle. Sie sei froh, dass es die Buslinie hier gibt, erzählt sie weiter. Sonst käme sie nicht zur Arbeit. Frage: Ist das hier ein Dorf? „Ja, Schulzendorf.” Klingt logisch. Das Dorf liegt im Westen des Ortsteils Heiligensee, Bezirk Reinickendorf. Was sollte man in Schulzendorf gesehen haben? Ihr fällt dazu nicht viel ein. Der Wald sei schön. Na dann, zum Wald. 

Wenige Meter weiter in der Ruppiner Chaussee riecht es nach Pferd und Heu. Eine Handvoll Ponys und Pferde stehen auf einer sandigen Koppel, wedeln mit dem Schweif hin und her, ein Pferd gähnt, andere stehen einfach nur da. Kurze Zeit später führt eine Frau mehrere aus der Koppel, am Stall entlang, weg. Weiter. Vorbei an Ein- und Mehrfamilienhäusern mit Garten. Der vorbeirollende Busfahrer der Linie 124 aus der Gegenrichtung isst entspannt sein belegtes Brötchen und schaut nach draußen.

Was ist typisch für ein Dorf? Abgelegenheit, wenige EinwohnerInnen. Man kennt sich besser untereinander als die tausenden AnwohnerInnen eines durchschnittlichen Berliner Viertels es je könnten. Aufmerksame, neugierige Blicke begegnen Unbekannten in Schulzendorf auf der Straße. Kurz vor der kleinen Fußgängerbrücke zum Wald führt ein Tunnel die Autobahn A111 in Richtung Hamburg ans Tageslicht. Gleichmäßig rauschen Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit in beide Richtungen vorbei. Bei Sattelschleppern, langen LKWs, rattert es ab und zu. Als Pferde noch zum Massentransport genutzt wurden und die Straße hier damals Hamburger Poststraße hieß, schleppten sie ihre Sattel ebenso hier die Straße entlang … In den Wald an dieser Stelle schleppen dürfen die heutigen Hobby-Reitpferde aus der Umgebung ihre Sättel allerdings nicht. Ein Schild am Waldeingang verbietet Kraftfahrzeuge ebenso wie Reiter und Gespanne.

Vom Flugplatz Schulzendorf startete einst Gustav Lilienthal

Im Wald liegt gleich mehr Sauerstoff in der Luft. Hohe dünne Bäume, grüne und braune Farbtöne. Mit Moos bewachsene Äste und Baumstümpfe, verwitterndes Laub abseits der Wege. Mal joggt jemand über den Waldweg, vereinzelt singen Vögel. Der Berliner Forst Tegel an der östlichen Seite von Schulzendorf beginnt relativ eben. Dass der Wald größer ist als der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, lässt sich nur erahnen. Südlich wird es hügliger und gefährlicher. Neben dem Waldweg liegen schräge, unübersichtlich dicht bewachsene Abhänge. Auf dem Weg liegt ein dicker umgefallener Baum. Dran vorbeilaufen geht nicht wegen der Abhänge. Eine Frau mit drei Hunden ist die Waldstelle offenbar schon gewohnt. Sie redet ihren Hunden gut zu, dann springen erst die zwei großen, nach extra Aufforderung der kleine. Schließlich steigt sie selbst drüber.

Ein paar hundert Meter weiter führt der Weg nahe an der Bahnschneise durch den Wald. Etwa alle zehn Minuten schnellt ein Zug der S-Bahn-Linie S25 über die eingleisige Strecke zum nahegelegenen Bahnhof. Den Wald gibt es hier seit Urzeiten. Züge gibt es hier vergleichsweise erst seit Ende des 19. Jahrhunderts.

Kremmener Bahn hieß die Linie einst. Damals, als Schulzendorf sogar für ein Dorf wenige EinwohnerInnen hatte, Arbeiter mit Familien vorwiegend, die im Teer-Ofen Schulzendorf von Christian Schultze Teer, Pech und Kienöl zum Schmieren von Kutschen herstellten. Die Ortschaft hieß zu der Zeit sogar noch Neu-Heiligensee und war auf das benachbarte, sehr viel ältere Heiligensee infrastrukturell angewiesen. Dann kam die Bahn. Mit ihr kamen BerlinerInnen auf Ausflügen, die die Entwicklung von Gastronomien und Pensionen in Schulzendorf voranschreiten ließen. Ihrerzeit gab es den Flugplatz Schulzendorf bereits, der vom Berliner-Flugsport-Verein genutzt wurde, dem unter anderem der Flugpionier Gustav Lilienthal vorsaß.

Während des Ersten Weltkriegs kam dann das Flugregiment 12 auf die 25 Hektar große Fläche. Nach dem Krieg wurde die Fläche wieder zivil. Nicht so dagegen die einstige Kaserne der Soldaten. Sie kam zwischenzeitlich zur Berliner Polizei und zu den Alliierten. Heute gehört sie zur Berliner Feuerwehr und ist Sitz der Landesfeuerwehrschule. Offizieller Name: Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienst-Akademie, Campus Schulzendorf. Am 8. September veranstaltet die Feuerwehr übrigens ein öffentliches Sommerfest: „mit DJ und Livemusik“, auf der Dorfaue Alt-Heiligensee.

Schrebergärten und ein Trainingsgelände für Hunde verbinden den südlichen Wald mit den nächsten bewohnten Häusern von Schulzendorf. Es folgt: das Diakoniezentrum Heiligensee. Auf dem Dorfgelände um Dorfteich und Dorfschule, heute Grundschule, baut das evangelische Werk seit 50 Jahren soziale Einrichtungen auf, behält allerdings die dörfliche Struktur mit öffentlichen Straßen und Gewerbe. Eine Gruppe von SeniorInnen spaziert über den Steinweg auf dem Gelände mit einer Betreuerin gen Wald. Der einstige Dorfteich etwas weiter ist heute eine Versenkung, in der sich bei Regen das Wasser sammelt. In der Dorfmitte gibt es nach wie vor wenige Geschäfte: einen kleinen Nahkauf, eine kleine Sparkasse, einen Friseur, eine Fahrschule, einen Second-Hand-Laden. 

Im Dorf der Zugezogenen

Herr Hoffmann steht im Café am Marktplatz und wartet auf Gäste. Der Mittvierziger mit kräftiger Stimme und Strand-Shirt arbeitet seit Jahren in dem Café mit den alten manuellen Kaffeemühlen und Teeservices an der Wand. Eine Terrasse, gepolsterte Sitzecken, mehrere Torten in einer beleuchteten Vitrine. Es sei dörflich hier, ja. Man kenne sich, sei sich gewogen. Dass der Vater und der Großvater wie in einem alten Dorf hier leben, sei aber nicht so. Es seien alles Zugezogene, die hier recht selbstständig wohnen würden. Für SeniorInnen gibt es höchstens eine Tagespflege. Allerdings habe jeder einen Grund, hier zu sein und bekomme eine staatliche Unterstützung in irgendeiner Form. Seien es Mütter mit Kindern, Menschen mit Behinderung oder Jugendliche. Verschiedene Generationen, bunt gemischt zwischen Ruhe, Abgeschiedenheit und Wald.

Das Zentrum sei aber keine Pflegeeinrichtung. Historisch gesehen war das Zentrum einst schon eine Pflegeeinrichtung für SeniorInnen und psychisch Erkrankte. Mit der Zeit kamen mehr Einrichtungen und offenere Konzepte zur Behandlung dazu. Die BewohnerInnen der Ein- und Mehrfamilienhäuser aus den umliegenden Straßen kämen im Alltag heute selten zu dem kleinen Marktplatz vor dem Café. Sie würden morgens zwecks Arbeit wegfahren und ansonsten vor allem Zeit auf ihren Grundstücken verbringen. Wer weiß, vielleicht wird es irgendwann Zeit, Schulzendorf in Diakoniedorf umzubenennen.

Ein Senior mit Rollator kommt in das Café und bestellt ein Bier. Ohne Umschweife spricht er mit dem Mitarbeiter über seine aktuellen Leiden. Zeit zum Gehen. Unter der S-Bahn-Brücke mit großen Kunstgraffiti zur Diakonie hindurch folgen ein langer begrünter Weg und kleine Straßen mit unbefestigten Rändern. Die Straßen tragen Namen wie Mümmelmannweg, Gemsenpfad, Im Reh-Grund und An der Wildbahn. An der Schulzendorfer Straße stehen wenige größere Gebäude wie eine modernisierte Villa, die heute eine Gastronomie ist sowie die Matthias-Claudius-Kirche und die St. Marien-Kirche. 

Alt-Lübars, Alt-Blankenburg, Alt-Marzahn, Alt-Marienfelde, Dahlem-Dorf. In Berlin gibt es viele dörfliche Gegenden; sogar der touristisch erschlossene Richardplatz im Böhmischen Dorf in Neukölln hat dörfliche Züge. Dass ein Dorfkern wie in Schulzendorf allerdings noch aktiv genutzt wird, abgeschieden liegt und wenige EinwohnerInnen hat, das ist für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich. Die Liedzeilen von Reinhard Mey über Berlin scheinen nach wie vor aktuell: „Es gibt sie, die Winkel, die die Großstadt und die Bauwut übersehen haben …”

Text und Bilder: Jeanette Tust

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