Das Viertel liegt am westlichen Rand von Moabit. Die Stadtautobahn begrenzt es nördlich, östlich das Wirtschaftsministerium und der Charité-Campus, südöstlich die Spree. Im Süden grenzt es an das Regierungsviertel mit Bundestag und Bundeskanzleramt. Seine westliche Grenze verschwimmt am Übergang der Lehrter Straße in den Ortsteil Moabit.
Der Handwerker zieht die Augenbrauen zusammen und sagt: „Die haben den Hauptbahnhof dort einfach hingepflanzt.“ Der etwa 50-jährige Facharbeiter für Heizung und Sanitär deutet aus der Scharnhorststraße in südliche Richtung (25. August) gen Hauptbahnhof Lehrter Bahnhof.
Der Mann mit blauer Latzhose lehnt am frühen Nachmittag an einer Grundstücksmauer und blinzelt in die herbstliche Sonne. Wenige Minuten vorher ließ er sich im Bundeswehrkrankenhaus gegenüber untersuchen. Ein 80 Kilogramm schwerer Gegenstand war auf seinen Arm gefallen, erläutert er. Er trinkt einen Schluck aus seinem Coffee-to-go-Becher. Seit 1904 lebe seine Familie in Berlin. Er kam nahe dem Kreuzberg in Friedrichshain-Kreuzberg auf die Welt.
Damals habe sich vor dem Hauptbahnhof Lehrter Bahnhof ein schöner kleiner, historischer Bahnhof mit Autowerkstätten befunden, erzählt er. Sonst sei dort Vakuum gewesen nahe der Sandkrugbrücke, ein Grenzübergang zwischen Westberlin und der DDR. Das verhältnismäßig neue Monument Hauptbahnhof finde er nach wie vor fremd. Die einstigen Arbeiterviertel in Moabit würden mehr und mehr an historischer Substanz verlieren. Das Hauptbahnhof-Viertel breite sich dorthin aus.
Große Dimensionen
Gut 500 Meter weiter passieren tausende Menschen den viergeschossigen Hauptbahnhof. „Alles Touristen“, wird der Verkäufer eines Schnellimbisses neben der Rolltreppe zur U-Bahn-Linie 55 später kommentieren. Im Augenblick sagt einer von zwei durch den Bahnhof streifenden Polizisten, dass die Richtgröße der Menschen am Hauptbahnhof 300.000 pro Tag seien. Eine Menschenmasse ungefähr so groß wie alle EinwohnerInnen des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf frequentieren jeden Tag den Rand von Moabit.
Trotzdem zerstreuen sich die vielen Menschen in den großen Dimensionen um den Bahnhof: In den 75 Bahnhofs-Geschäften, auf dem großen Washingtonplatz am südlichen Ausgang vor dem Bundeskanzleramt, in den etlichen Hotels und Gästehäusern in der nahen Umgebung, in dem mehrstöckigen Bürogebäude der Deutschen Bahn über dem Bahnhof, auf den überdurchschnittlich langen Zug-Gleisen, in den Fernbahnen, Regionalbahnen, S-Bahnen, U-Bahnen, Taxis, privaten Pkws und auf Fahrrädern.
„Aaaahhhh.“, stöhnt es erleichtert aus einem rund 55-jährigen Mannes. Der Berlin-Besucher hat sich mit Frau und Sohn gerade auf den Sockel einer gut vier Meter hohen Pferdeskulptur an der nördlichen Seite des Bahnhofs gesetzt. Der jugendliche Sohn hält eine Einkaufstüte des Kleidungsgeschäfts Primark in der Hand. Die Frau kramt einen Stadtplan aus der Tasche. „Wo verlief hier die Grenze zu Ostberlin?“, fragt der Mann mit schwäbischem Akzent. Ah so, an der Spree. Der Hauptbahnhof liege also im ehemaligen Westberlin. Gegenfrage, was macht das Bahnhofsviertel für einen Eindruck auf ihn? „Gewaltig, mächtig, riesig.“, antwortet er, während er auf das mehrere Fußballfelder große Ministerium für Wirtschaft und Energie neben den vielen Baustellen um den Bahnhof blickt.
Neuer Stadtteil
Hinter ihm, noch hinter vier meterhohen Glasscheiben gesichert, in der Pferdeskulptur von Künstler Jürgen Goertz, sind Reste des damaligen Fernbahnhofs Lehrter Bahnhofs und Lehrter Stadtbahnhofs ausgestellt. Rostende Zugräder, Trümmer, Mauerreste und zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos. Das Kunstwerk mit einem Pferd in wilder Bewegung oben stehe für die lange Tradition Berlins als verkehrsreicher Stadt.
Der Lehrter Bahnhof war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr sanierbar und wurde 1951 geschlossen. Seit dieser Zeit war der Bahnhof als Stadtbahnhof Station der innerstädtischen Ost-West-Strecke der S-Bahn. Vor heute 19 Jahren begann der Bau des Hauptbahnhofs. Sein Hauptzweck ist die bessere Verkehrsanbindung von Nord- und Südberlin. Der Zweck wird noch nicht erfüllt.
Die S-Bahnlinie S21 in Richtung der nördlichen Bahnhöfe Westhafen und Wedding braucht noch Jahre bis zur Fertigstellung. Statt funktionierender Gleise liegen entlang der Heidestraße derzeit Baugruben. Hinter dem durch Holzwände verdeckten Areal gen Moabit wächst Unkraut neben Dixiklos und Wohncontainern von Bauarbeitern. Eine fertiggestellte Tramhaltestelle liegt verlassen an der Clara-Jaschke-Straße. Der nördliche Bahnhofsvorplatz mit dem Namen Europaplatz ist voll Umleitungen, Baustellen, davor warnenden Verkehrsschildern und Baumaschinen. Das Viertel Mitte am Hauptbahnhof ist eines im Wandel.
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