Berlins mächtigstes Viertel

Weitraeumig abgesperrt wird das Kanzleramt nur bei hohem Staatsbesuch wie PraesidentInnen. VerteidigungsministerIn reicht nicht

Das Regierungsviertel in Mitte ist ein Zentrum regionaler, bundesweiter und internationaler Macht – ein Streifzug.

Das Viertel hat keine festen Grenzen. Am ehesten lässt es sich dem Gebiet der Postleitzahl 10117 zuordnen. Das liegt im Südosten des Bezirks Mitte. Der Charité-Campus und die Schumannstraße sind die nördliche Grenze, die Museumsinsel die östliche, die Zimmerstraße die südliche und die westliche die Stresemannstraße über den Potsdamer Platz bis zum Park Tiergarten.
„Wenn Sie hier nach dem Krieg zu spät zur Arbeit kamen, sagten Sie einfach, dass Sie wieder einmal warten mussten, da eine Bombe entschärft wurde.”, sagt der etwa 40-Jährige Begleiter einer Gruppe TouristInnen auf Englisch (5. Dezember). Die TouristInnen lachen. Der Begleiter bezieht sich auf die Zeit des Wiederaufbaus Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg. Bomben zerstörten das damalige Regierungsviertel weitgehend. Weitere Anekdoten aus der Nachkriegszeit folgen, als die Gruppe in der Gertrud-Kolmar-Straße steht, schräg gegenüber des Holocaust-Denkmals mit seinen hunderten an Betonblöcken.
Es ist der Vormittag vor Nikolaus. Im Bundesland Thüringen wählt der Landtag den Politiker Bodo Ramelow (Die Linke) zum ersten linken Ministerpräsident einer rot-rot-grünen Landesregierung. Am Brandenburger Tor in Berlin fotografieren sich Berlin-BesucherInnen bei nass-kalten Temperaturen vor einem rund zehn Meter hohen Weihnachtsbaum.

Altes und Neues
Die zwei Pförtner im ehemaligen Bundesministerium für Bildung und Forschung in der Hannoverschen Straße 28 – 30 sind in ihre Smartphones vertieft. Das Ministerium für Bildung und Forschung zieht bald in ein neues Gebäude. Das Neue ist größer und liegt näher am Bundeskanzleramt und am Bundestag. Dann wird eine andere Behörde in das Gebäude ziehen, das einst die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR war.
Der alte Bau mit den länglich-viereckigen Sicherheitskameras gehört zum Grenzbereich des Viertels. Dem Bereich, in dem sich die Regierungsbauten weniger ballen. Einer der zwei Pförtner erhebt sich im Halbdunkel des Eingangsbereichs vom Stuhl und durchschreitet in dünnem Pullover die zwei Türen der Sicherheitsschleuse nach draußen. Frage: „Wo endet das Regierungsviertel?“ Seine Antwort: “Mitte ist das Regierungsviertel.”
Ganz Mitte? Auch der Kiez Mitte in Mitte nahe dem Alexanderplatz? Darauf antwortet der Pförtner nicht. Dafür erzählt er von einem Wirt aus Bonn, der nach Berlin und direkt an der Spree die Kneipe Ständige Vertretung eröffnete und betrieb. Sie existiert nach wie vor. Einige TouristInnen und BerlinerInnen verwechseln den Ort mit der echten einstigen BRD-Botschaft in der DDR. Die befand sich in hier, in dem Gebäude, über das der Pförtner mit wacht. Er schließt die Tür wieder.

Gesehen werden
Ist das Regierungsviertel in Berlin nicht genau eingrenzbar, so ist es doch näher beschreibbar. Sein Kern ist der Postleitzahlenbereich 10117, weil sich hier Zwölf der 17 Standorte der Bundesregierung in Berlin befinden. Zudem sitzen die Vertretungen der Landesregierungen, der Bundesrat und das Berliner Abgeordnetenhaus hier.
Die Europäische Union repräsentiert sich hier mit einer öffentlichen Infostelle am Pariser Platz, dem Platz vor dem Brandenburger Tor in östlicher Richtung. Zudem repräsentieren sich in dem Viertel unzählige Lobby-Organisationen in kleinen bis großen Büros, um ihren Interessen entsprechend Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen.
In der Reinhardstraße unweit des Hauses der Bundespressekonferenz ist in einem Schaufenster der Querschnitt des Motorgehäuses von einem Windrad direkt studierbar. In durchschnittlichen Berliner Schaufenstern gibt es das nicht. Auch sonst unterscheidet sich die Straße unweit des Bundestags und des Bundeskanzleramts äußerlich von durchschnittlichen anderen Berliner Straßen. Die meisten Gebäude beinhalten Büros. An deren Hauswänden sind viele Logos und werbende Schriftzüge von Unternehmen, Verbänden und weiteren Organisationsformen angebracht.

Große Dimensionen
Die meisten Regierungsbauten sind groß dimensioniert. Teilweise sind sie historische Gebäude und hatten vorher andere Zwecke. So war beispielsweise das Bundesfinanzministerium in der Wilhelmstraße einst das Hauptquartier der Luftwaffe der Nationalsozialisten. Der Kontext wird in Ausstellungen und in der Gedenkstätte Topografie des Terrors gegenüber erläutert.
Der Bundestag hat als Ausnahme die eigene Postleitzahl 11011. Er besteht aus vier Gebäudekomplexen und einem umfassenden unterirdischen Verbindungssystem mit Parkhaus. Die Gebäudekomplexe sind zum einen das Reichstagsgebäude, in dessen Plenarsaal das Parlament tagt. Zum anderen sind das das Jakob-Kaiser-Haus, im Paul-Löbe-Haus und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus mit den Büros der Abgeordneten.

Schiff und Gallionsfigur
Die Deutschlandfahne auf dem Dach des Reichstagsgebäudes weht heute bei mäßigen Wind immer mal wieder. Eine Frau schiebt am Nachmittag ein Kleinkind über eine steile Brücke über die Spree. Das Kleine sitzt fast aufrecht in einem Buggy und isst Weißbrot. Die zwei kamen aus der Richtung der Bundestagskita gegenüber des Paul-Löbe-Hauses.
„Komm doch!”, bittet dort eine Mutter ihr Kita-Kind. Das warm angezogene Mädchen hält sich unschlüssig am Torgitter des Kita-Eingangs fest. Nach einigen Verhandlungen mit dem hinzugezogenen Großvater aus dem Auto lässt die Kleine los und steigt ins Auto.
Die Großkita hat eine von umstehenden Gebäuden sehr unterschiedliche architektonische Form. Laut dem Architekten Gustav Peichl soll sie an ein Schiff mit Segeln mit Doppelkugeln auf dem Dach assoziieren lasse. Aus einem der Bahnzüge über die Ost-West-Trasse durch Mitte lässt das Gebäude allerdings eher eine nackte Frau assoziieren: Die Doppelkugeln mit runden Spitzen sind dabei die Brust, die Segel die gespreizten Beine hin zum Bundestag. Assoziationen können sehr unterschiedlich sein. In den Doppelkugeln haben die Kinder laut Gustav Peichl übrigens ihre Wohnhöhlen für den Mittagsschlaf.
Plötzlich blinkt sirenenloses Blaulicht. Eine Kolonne aus blau-weißen MotorradfahrerInnen, AutofahrerInnen, FahrerInnen von Vans und grünen Mannschaftswagen, zudem zwei ReiterInnen mit blau-weißem Umhängen auf den Pferden fährt bzw. reitet kurze Entfernung weiter vor das Bundeskanzleramt. Zwischen sich haben die FahrerInnen in schwarzen, abgedunkelten Wagen den Präsidenten Afghanistans, Aschraf Ghani, sowie andere hohe afghanische Politiker. Staatsbesuch.

Flöten, Trommeln, Posaunen
Dutzende interessierte BerlinerInnen warten vor den roten Absperrbändern und verfolgen die anschließende Besuchs-Zeremonie. Zuerst spielt eine Kapelle die afghanische Nationalhymne. Dann trommelt, flötet und posaunt sie die deutsche. Abschließend zieht die feierlich gekleidete Kapelle mit rund fünfzig SoldatInnen im Gleichschritt ab gen Tiergarten. Aschraf Ghani ist zu der Zeit längst in das Bundeskanzleramt begleitet worden. Laut Deutschlandfunk wird es bei dem Staatsbesuch um Unterstützung Deutschlands für Afghanistans Sicherheit und Schulen gehen.
Am Brandenburger Tor markiert kurze Zeit später ein Polizist eine Absperrung um das Hotel Adlon. Er sitzt dazu in einem Polizei-Van bei angeschalteten Motor. Die Bewegungen sich nähernder Menschen beäugt er kritisch und ruft alle Unbefugten zurück, die es kurz hinter die Absperrung geschafft haben. Wie ist das, hier regelmäßig zu arbeiten? Er arbeite hier nicht oft, antwortet aber trotzdem. „Touristenecke halt.“ Einheimische seien schwer zu finden. Das stimmt.

Text & Fotos: © Jeanette Tust

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