Ich mach Schluss, es ist vorbei! Neukölln und ich gehen ab sofort getrennte Wege.
Eine Kolumne von www.beta2version.de
Habe ich in der Vergangenheit die große Kluft zwischen uns immer gerne überwunden, so ist es mir inzwischen ganz lieb, dass etwa elf Kilometer zwischen uns liegen. Die Vorfreude auf das, was Neukölln in der Vergangenheit zu bieten hatte, ist einer Resignation und Gleichgültigkeit gewichen. Um ehrlich zu sein, hätte ich unser Verhältnis auslaufen lassen, hätte geghostet und die Verlockungen des Gettos gekonnt ignoriert. Aber ich bekam mal wieder Besuch aus Leipzig. Zu allem Schreck wollte dieser das Tempelhofer Flugfeld besichtigen. Ein Abgesang.
Sonnenanbetung auf minimalem Raum
Was Berliner und Anwärter auf diese Bezeichnung nach langen Monaten der Dunkelheit und Kälte ausmacht, ist das konsequente in Beschlag nehmen minimaler Sonnen-Hotspots an Wochenenden. So auch an jenem Sonntag, der sich von seiner besten Seite zeigte und mit zweistelligen Temperaturen um sich warf. Was ich bereits ahnte, dessen sich mein Besuch allerdings nicht bewusst war: Das Flugfeld und seine Ausläufer waren voll, um nicht zu sagen – überfüllt. Spitzen-Idee sich an einem Sonntag, der es erlaubte mit Übergangsjacke herumzulaufen, Frühlingsgefühle inklusive, auf Berlins größte Freifläche zu wagen.
Den Frühling verbinde ich ja gerne mit frischen Farben und einem Lächeln im Gesicht. Zwischen Hermannstr. und Oderstraße jedoch schlichen schwarze Gestalten mit tief ins Gesicht gezogenen Sonnenbrillen an uns vorbei. Bezeichnend war: Mindestens jeder dritte von ihnen hatte ein Wegbier in der Hand. Ich fragte mich, ob das noch ein Überbleibsel des Clubs war, aus denen sich die schwarzen Kreaturen soeben geschält hatten oder das Konterbier. Aufgrund der Sonnenbrillen konnte ich leider nicht erkennen, ob die massiv zur Schau getragene Coolness und Gleichgültigkeit ein Probelauf für die Berghain-Schlange war oder eben aus dieser resultierte.
Hohe Dichte an Tinder-Nieten
Leider bedeutet Neukölln für mich inzwischen auch das Überwinden eines Hindernisparcours. Wer mich kennt, weiß, dass ich nichts mehr hasse, als Small Talk. Nun ist es in der Tat so, dass Neukölln gepflastert ist, mit, nun ja, einer gewissen Anzahl von vergangenen und verdrängten Tinder-Dates. Zwar sind sie inzwischen aus meinem Leben und Telefonbuch gelöscht, was aber nicht heißt, dass Murphy mal wieder seine aktive Phase hat und mich mit eben jenen aufeinanderprallen lässt. So lief ich also im Windschatten meines Leipziger Besuchs in der Hoffnung, bloß nicht auf jemanden zu treffen, den ich kenne. Glücklicherweise zeigte mein Besuch vollstes Verständnis und fungierte als Bodyguard, während ich mit nach unten gerichtetem Blick ganz Promi-like die Massen ignorierte. Blöderweise ohne Sonnenbrille.
Ach Neukölln, wir hatten eine ganz gute Zeit. Ich denke gerne zurück an jene Zeiten, in denen meine beste Freundin und ich uns die Weserstraße auf und ab betranken. Ich hatte zahlreiche besagte Tinder-Dates in diesem Bezirk und machte auf dem Flugfeld meine ersten zaghaften Versuche auf dem Longboard. Was also hat sich verändert? Zu grübeln begann ich, als meine beste Freundin und ich letztens mal wieder losziehen wollten. Ihr Wunsch „Aber lass uns diesmal nicht nach Neukölln“ endete schlussendlich damit, dass wir an einem Samstagabend in Jogginghose daheimblieben, auf meinem Bett lagen und ungeschminkt und unfrisiert die Primetime analysierten. Ja, mit Mitte 30 überlege ich mir jetzt dreimal, ob ich die U8 einmal komplett mit allem mitnehme, zwischen spanischen Erasmus-Studenten und aufgeregten Hipstern mein Bier trinke und um Hundekot Slalom laufen muss. Zum Teil habe ich dieses Entertainment auch bei mir im Wedding. Nur der Weg ist kürzer.
Artikelfoto: Garon Piceli – https/www.pexels.comphotoart-blur-close-up-colors-580631 // CC0 Public Domain
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