
Neukölln verändert sich, mancherorts mit hoher Geschwindigkeit. Dabei wird über Gentrifizierung diskutiert und geschimpft wie überall. Fernab von Kreuzkölln ist der Karl-Marx-Platz im Begriff seinen neuen Charakter zu finden und einen Teil seiner Ruhe zu verlieren. Ein kurzer Blick auf den Platz, der sich im letzten Sommer noch anders anfühlte.
Zwischen der hektischen Karl-Marx-Straße und dem dörflich anmutenden Richardplatz liegt der Karl-Marx-Platz. Er verbindet zwei unterschiedliche Aspekte der Gegend. Die große Straße besteht aus Ramschläden, internationalem Fast Food, Boutiquen, Einkaufszentren, Verkehrsstau und Lärm. Die U7 fährt unter dem Asphalt zum Hermannplatz und spuckt immer wieder Menschengruppen aus. Döner, Curry oder Burger gibt es alle paar Meter. Die Läden für gebrauchte Handys nicht zu vergessen. Nur des Abends kommt die Einkaufsmeile und Verkehrsader zur Ruhe, die gelegentlichen Polizei- und Feuerwehrsirenen sind dann die einzigen lauten Töne.
Der Richardplatz ist das historische Zentrum von Rixdorf, dem alten Neukölln. Eine Dorfkirche und eine Schmiede gibt es dort, einige Restaurants, alte Straßenlaternen mit warmen Licht und eine Ruhe, wie sie selten ist in dieser Gegend. Wenn man sie sucht, findet man auch noch alte Bauernhäuser mit Gärten und vergisst für einen Moment die Stadt.
Dazwischen liegt der Karl-Marx-Platz. Er hat etwas von beidem und deshalb viel Reiz. Mittlerweile haben das ein paar Leute erkannt und beginnen diesen bisher grauen Ort für sich einzunehmen, ihn zu verändern und nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Andere müssen dafür weichen.
Ein kleiner Raum
Im letzten Jahr konnte man noch kein hausgemachtes Eis auf dem Karl-Marx-Platz kaufen. Der weiß gestrichene Laden mit Kristallkronleuchter und Stuck öffnete diesen Sommer und lädt die Besucher in seinen einfachen Raum, der in der Mitte eine Eistheke und vor der Tür eine kleine Bank bietet. Zwanzig wechselnde Sorten werden angeboten, Becher oder Waffel, auf einem Tisch liegt Infomaterial zu Veranstaltungen in der Gegend. Nebenan eine Grünfläche mit Bänken und Spielplatz, wie geschaffen, um ein Mangosorbet oder Stracciatella zu schlecken.
Vor einigen Monaten befand sich noch eine Schneiderei in dem Raum. Dort konnte man bis in die späten Abendstunden eine kleine Frau arbeiten sehen, während auf dem restlichen Karl-Marx-Platz nur noch die Kneipen und Alis SpätKauf gegen das Dunkel des Winters ankämpften. Zwischen all den Hosen, Hemden und Blusen saß sie gut beleuchtet vor dem Fenster und ließ ihre Hände unentwegt durch die Stoffe gleiten. Die Berge an Arbeit um sie herum sahen stets aus als wären sie nicht zu bewältigen, als würden sie eines Tages über ihr einstürzen und sie zum Stillstand zwingen.
Draußen ein Bier oder Wein
In der Mitte des Platzes steht eine Figurengruppe vom sächsischen Bildhauer Hartmut Bonk. Imaginäres Theater: Leda mit Schwan, Zyclopen und Zentaur, nennt sie sich und wird begleitet von einem kleinen Brunnen, der nie Wasser führt und sich deshalb als Sitzgelegenheit anbietet. Wenn die Holzbänke besetzt sind, kann man dort ein Bier trinken. Oder man folgt dem Arm des Zentauren. Dieser verweist auf das neue Weingeschäft auf der anderen Straßenseite. Dort bietet das Balera italienische Weine direkt vom Winzer an. Von Dienstag bis Samstag kann man in den Nachmittags- und Abendstunden eine Flasche im Laden erwerben und sie vom Fass befüllen lassen, wahlweise kann man seine eigene Flasche bringen. Bei guten Wetter stehen Tische und Stühle bereit und die Öffnungszeiten werden großzügiger ausgelegt. Freundliche Atmosphäre und gute Tropfen sowie die charmant schlichte Einrichtung haben diese Einrichtung schnell beliebt gemacht.
Über der Tür des Weingeschäfts steht in rosa Lettern „Hier Nr. 6“ geschrieben. Ein Hinweis auf den Betrieb in diesen Räumen, bevor dort gegorener Traubensaft ausgeschenkt wurde. Die Fenster waren schwarz abgeklebt, nur an einer Stelle gab es eine Aussparung, dort war der Schriftzug „Love“ zu sehen und blinkte rot. Die Männer, die des Nachts aus der Tür traten, gingen stets schnellen Schrittes von dannen. Bei Tageslicht bewegte sich die Tür nicht.
Im Winter konnte man hin und wieder ein paar Lausbuben sehen, die abends Schneebälle in die Hände nahmen und sie freudig gegen die schwarzen Fenster warfen. Anders als die Männer blieben sie mit leuchtenden Gesichtern stehen und warteten. Manchmal wurden sie belohnt und die stattliche Chefin öffnete die Tür, um sie mit Schimpf und Tadel zu vertreiben. Genau so wie sie es wollten.
Sanieren und diskutieren
In den letzten Monaten haben zwei Händler für gebrauchte Elektrogeräte geschlossen, auch die Currywurst-Pommes-Bude auf dem Karl-Marx-Platz wird nicht mehr betrieben. Die alte Eckkneipe „Zum Karl-Marx-Platz“ ist schon länger dicht. Dort gab es noch hölzerne Bänke, Tische und Stühle, tief hängende Lampen mit grünen Samtbezügen, alte Zille-Zeichnungen im Fenster und scheinbar noch ältere Kunden, die sich den Futschi für 1,30 schmecken ließen, hier und da mal über die Strenge schlugen, aber von Moni, der Wirtin, sogleich zurecht gewiesen wurden.
Ali sagt, es werde das gesamte Eckhaus restauriert. Die einfachen, schmucklosen Wohnungen auf Vordermann gebracht. Die Wohnungen, die meist keine Vorhänge in den Fenstern haben, sondern Bettlaken, hier und da eine Flagge Rot-Weiß-Scharz-Grün und auf dem Balkon eine große Satellitenschüssel. Am Ende sollen es Eigentumswohnungen werden.
Der Späti von Ali ist geblieben und wird niemals vergehen, das ist sicher. Sein Stil ist einzigartig, weist mexikanische und orientalische Elemente auf, ein Surfbrett an der Decke, dazu Reggae aus den Boxen. Auf den Stühlen vor der Tür treffen sich die glücklichen und unglücklichen Urgesteine der Gegend, um sich über das Geschehen in der großen und kleinen Welt zu unterhalten, und auch über die Veränderungen auf dem Karl-Marx-Platz. Manchmal brechen sie zusammen in Lachen aus, manchmal verstehen sie sich nicht.
(Text & Foto: Sebastian Riemann)
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