Das Weltkulturerbe liegt in Berlin-Neukölln, Ortsteil Britz. Die Grenzen der Siedlung sind die Fritz-Reuter-Allee im Osten, im Süden die Talberger Straße und Parchimer Allee, im Westen die Onkel-Bräsig-Straße sowie im Norden die Blaschkoallee. „Hallo liebe Bewohner!! Wir wollen Teil von Euch werden und SUCHEN eine WOHNUNG/HAUS mit GARTEN im Süden von Berlin!!“, fängt die ungewöhnliche Suchanzeige an. Sie steht nicht etwa in der Onlinerubrik eines Immobilienportals als Webtext. Nichts dergleichen, sie hängt fein säuberlich gedruckt, mit Fotos, sogar vom Hund, in eine Folie gesteckt und mit Klebeband befestigt an der Lehne einer öffentlichen Sitzinsel um einen Baum. Der Sitzinsel auf dem Hüsung.
Die kleine Straße mit dem Namen Hüsung sieht eigentlich wie eine übliche Straße aus, mit einer rautenförmigen, begrünten Mittelinsel. Zu den Häusern hin parken Autos. Im Fall der Hufeisensiedlung wird „dem Hüsung“ allerdings eine spezielle Bedeutung beigemessen. Ähnlich einem Dorfanger gilt der Ort als Treffpunkt. Hier finden die jährlichen Nachbarschaftsfeste statt. Der Begriff komme aus dem Niederdeutschen und stehe für häusliche Geborgenheit, laut einer Siedlungs-Ausstellung. Für ein Stück Unabhängigkeit gegenüber feudalen Gutsherren. Ok, wieso das denn hier? Ein Blick in die Geschichte der Siedlung gibt Auskunft.
Mit Hecken scheinen sich die Anwohner abzuschirmen
Eben an dieser Stelle lag einst das Rittergut Schloss Britz. Dann brauchte Berlin wie heute Wohnraum – damals einen Zacken schärfer: in vielen Wohnungsräumen lebten mehr als fünf Personen. Die Stadtverwaltung kaufte einen Teil des Rittergutes und baute zur Zeit der Weimarer Republik ab 1925 2.000 Wohnungen drauf. Das war seinerzeit außergewöhnlich. Dass kein privater Investor, sondern die Stadt selbst Wohnungen schuf und an BerlinerInnen mit unterschiedlichen Einkommen vermietete. Politisch gesehen war das ein Projekt der SPD, die Rot als Parteifarbe trägt. Deswegen gibt es auch heute noch den Namen Rote Front für die Rot gestrichenen Reihenhäuser der Fritz-Reuter-Allee.
Durch den Bogen unten an einem Haus am Hüsung läuft eine beige-weiße Katze in Richtung Parchimer Allee. Eine Kolonie Schrebergärten liegt hier zwischen den Häusern. Dichte Hecken verdecken den Blick in die Gärten. Wie fast überall in der Siedlung: hohe Hainbuchenhecken, Ligusterhecken, Zierhecken. Die Anwohner scheinen sich nach außen hin abzuschirmen. Schutzgut Privatsphäre. Durch einen Teil der Hecken lässt sich trotzdem schmulen: ein Planschbecken, Gartenhäuschen, eine kleine Begräbnisstätte, jemand Lesendes, Terrassentische mit sich unterhaltenden Anwohnerinnen.
Dazu eine Ruhe, die für den Bezirk Neukölln untypisch ist. Nicht mal ein Rauschen von Autos in der Ferne auf Durchfahrtsstraßen ist hörbar. Nur zwei U-Bahn-Stationen weiter am Bahnhof Neukölln braust und lärmt es an diesem warmen Sommertag heute, trotz Schulferien. Zurück zur Ruhe in der Siedlung.
Hufeisen um eiszeitlichen Pfuhl
Nur zwei U-Bahn-Stationen weiter am Bahnhof Neukölln braust und lärmt es an diesem warmen Sommertag heute, trotz Schulferien. Zurück zur Hufeisensiedlung. Der Name der Siedlung rührt von ihrem zentralen Bau her. Das ist eine gut 350 Meter lange, blau-weiß gestrichene Häuserzeile in der Form eines Hufeisens. Was für ein Bild: hunderte Wohnungen in einer Form, die weithin als Metapher für Glück steht. Gruppiert um den Hufeisenteich, genauer gesagt einen Pfuhl. Das ovale kleine Gewässer liegt in einer natürlichen Senke. Ein Gewässer aus der Eiszeit.
An der offenen Seite der Hufeisenhäuser führt eine weite Freitreppe zu einer Promenade mit etwas Gewerbe: ein Restaurant, eine Servicestelle für MieterInnen, ein Friseur, eine Fleischerei, eine Bäckerei. Viel Gewerbe gibt es in der ganzen Siedlung nicht. Nicht mal ein normaler Supermarkt mit Lebensmitteln ist hier vorhanden. Freitags gibt es an der nächsten Ecke an der Parchimer Allee einen kleinen Wochenmarkt. Die Bäckerei verkauft zusätzlich Milch, Presseprodukte und bietet Paketdienste an. Wie ist das, wenn AnwohnerInnen hier älter werden und nicht mehr gut zu Fuß sind, um mit der U-Bahn-Linie 7 bis zum nächsten Einkaufszentrum in Britz-Süd zu fahren? Immerhin wird an der U-Bahn-Station Parchimer Allee derzeit ein Aufzug eingebaut. Bei der Frage nach dem Grund für die geringe Nahversorgung wird schnell klar, dass die Hufeisensiedlung kein üblicher städtischer Bereich von Berlin ist.
Auf dem Schloss Britz gibt es das passende Baumblütenfest
Die Siedlung ist ein Denkmal. Ein riesiges Denkmal mit dem Titel Weltkulturerbe der Unesco. Da hier während ihrer Entstehungszeit ein neuartiger sozialer Wohnungsbau umgesetzt wurde, mit einer Mischung aus Reihenhäusern, Mehrfamilienhäusern, viel Platz, viel Grün, für jedes Haus zugeordneter Garten, Abwechslung in den Straßenzügen trotz industriellem Massenbau von Wohnraum – erhielt sie den Status als Weltkulturerbe. Sie soll konserviert werden.
Die Stadt hat die komplette Siedlung zudem als Denkmal registriert. Das bringt strenge Auflagen in Sachen Denkmalschutz mit sich. Haus beliebig farbig anstreichen? Geht nicht. Flächen für einen Supermarkt bauen? Geht nicht. Nur die vorhandenen kleinen Gewerbeflächen können genutzt werden. Seit Jahrzehnten gewachsene große Hainbuchen am Lowise-Reuter-Ring behalten? Nein, die Bäume wurden gefällt, da hier vor dem Zweiten Weltkrieg ursprünglich eine andere Baumsorte wuchs. Ein Unesco-Titel wiegt schwer, so scheint es.
„Britz ist anders.“, sagt die Apothekerin in der einzigen Apotheke vor Ort, Parchimer Allee. Wegen vergangener Überfälle müssen KundInnen klingeln, um in die Apotheke zu gelangen. Sie finde die Gegend schön ruhig, gemütlich, sogar familiär. Klar möge man nicht, dass jeder bei einem reingucke, sagt sie bezüglich der vielen Hecken. Besonders schön sei das Blühen der Kirschbäume im Frühjahr. Auf dem einen Kilometer entfernten Kulturgelände Schloss Britz gäbe es dann das dazu passende jährliche Baumblütenfest.
Der Verkäufer schräg gegenüber in dem Geschäft Videobox findet die Siedlung ebenfalls ruhig. Immer. Nicht nur im Hochsommer in den Sommerferien. Leben Sie hier? Unverzüglich schnell antwortet der junge schlanke Mann: „Nein!“ Er bekommt trotzdem viel mit vom Leben in der Siedlung. Das Geschäft ist keine normale Videothek. Familienvideothek steht draußen dran. Innen ist sie zudem ein Solarium, ein Süsswarenladen, Tiefkühlpizza gibt es, ein Getränkelager und jeden Tag geöffnetes Café mit Tischen drinnen und draußen. Viele der AnwohnerInnen seien seit Jahren StammkundInnen. Man duze und kenne sich. Schnell ziehe hier niemand weg, der das Leben hier kennengelernt habe. Er empfiehlt die Gutshof Britz um die Ecke mit dem Museum Neukölln und Pferdekoppeln.
In der schmalen Paster-Behrens-Straße bedecken kleine hellgrüne Blätter von hohen Bäumen viele Dächer der parkenden Autos, ebenso den Gehweg. Die Straße endet in einer breiten, halbrunden Sackgasse. Praktisch zum Vorfahren mit dem Auto: Hier direkt liegt der mit bunten Mosaiksteinen gestaltete Eingang zu mehreren Schulen. Helikoptereltern kann das freuen. Vielleicht ist die Welterbe-Siedlung gegenwärtiger als man denkt. Fehlen auf dem weiten Siedlungsareal für ältere AnwohnerInnen nur noch fußläufige Paketstationen sowie ein einfacher Massen-Onlinehandel mit Lebensmitteln. Und schon wäre das einstige Leitbild Licht, Luft und Sonne für alle wieder reizvoll. Für alle.
Text und Bilder: Jeanette Tust
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